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Annie Girardot (Annie Suzanne Girardot) wurde am 25. Oktober 1931 in der
französischen Hauptstadt Paris geboren. Als sie vier Jahre alt war, starb ihr
Vater und sie wurde allein von ihrer Mutter groß gezogen. Zunächst ergriff sie wie ihre
Mutter den Beruf der Krankenschwester, nahm dann aber mit 18 Jahren
Schauspielunterricht bei Henri Bosc und Jean Meyer sowie anschließend bei
Henri Collan am Pariser Konservatorium. Nach ihrem Abschluss war Annie Girardot
bis 1957 Ensemblemitglied der "Comédie Française", wo sie vorzugsweise komische Rollen in
klassischen Stücken spielte. Es folgte Auftritte im Kabarett, beim Hörfunk und
Fernsehen. Während dieser Zeit spielte sie weiterhin Theater, u. a. unter der
Regie von Luchino Visconti neben Jean Marais in "Zwei auf der
Schaukel" und "After The Fall".
Seit Mitte der 1950er Jahre war Annie Girardot auch beim italienischen
und französischen Film als Charakterdarstellerin tätig und spielte
vornehmlich Rollen des Vamps oder Prostituierte mit tragischem
Schicksal. 1956 wurde sie mit dem "Prix Suzanne Bianchetti" als
"Beste Nachwuchsdarstellerin" ausgezeichnet.
Foto: Annie Girardot anlässlich der "César"-Verleihung 2005
Quelle: Wikipedia
bzw. Wikimedia Commons;
Urheber: Georges Biard; Lizenz CC-BY-SA 3.0.
Lizenz zur Veröffentlichung siehe hier
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Die erste große Filmrolle, die ihren Namen auch international bekannt
werden ließ, bekam die junge Schauspielerin 1960 von Luchino Visconti
in dessen Sozialdrama "Rocco e i suoi fratelli"1) (Rocco und seine Brüder)
an der Seite von Alain Delon. Annie Girardot spielte die Prostituierte
Nadia, die in einer berühmten und in einigen Ländern geschnittenen Szene von
ihrem Geliebten (Renato Salvatori) mit 13 Messerstichen getötet wird.
Aufmerksamkeit erregte sie auch als die lasterhafte Kollaborateurin Juliette Morand in Roger Vadims "Le
vice et la vertu"1) (1962, Das Laster und die Tugend) bzw.
als Gegenpol zu ihrer tugendhaften Schwester Justine (Catherine Deneuve),
danach agierte sie beispielsweise in dem zu vernachlässigenden Streifen "I compagni"1) (1963, Die Peitsche im Genick).
In den 1960er und 1970er Jahren war die Schauspielerin in Italien und Frankreich
sowohl in tragischen als auch komischen Rollen, zum Teil recht burschikoser
Natur, zu sehen und bald ein gefeierter Star. 1965 erhielt sie eine Auszeichnung
für ihre Verkörperung der neurotischen Kay in Marcel Carnés "Trois
chambres à Manhattan" (Drei Zimmer in Manhattan).
Claude Lelouch besetzte sie 1967 neben Yves Montand in "Vivre pour vivre" (Lebe das Leben)
und zwei Jahre später in "Un homme qui me plâit" (Der Mann, der mir gefällt)
als sensible, zurückhaltende und sehr sympathische Liebhaberin
→ wunschliste.de. Zu ihren besten Rollen
gehörte auch 1968 das Dienstmädchen mit dem Michel Piccoli in
Marco Ferreris bissigen Satire "Dillinger è morto"2) (Dillinger ist tot) ein Verhältnis
beginnt.
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"Der Mann, der mir gefällt": Abbildung DVD-Cover sowie
Szenenfoto mit Jean-Paul Belmondo als Filmkomponist Henri und
Annie Girardot als die gefeierte Schauspielerin Françoise
Mit freundlicher Genehmigung von Pidax-Film, welche
das romantische Roadmovie-Abenteuer
im Juli 2022 auf DVD herausbrachte.
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Das darstellerische Potential von Annie Girardot war sehr vielseitig und so
konnte sie souverän die Genres wie auch die Typisierungen wechseln. So tauchte
sie 1971 als "spätes Mädchen" Muriel Bouchon in Jean-Pierre Blancs
"La vieulle fille" auf, glänzte an der Seite von Jean Rochefort in
dem Ehedrama "Les
Feux de la Chandeleur"1) (1972, Kerzenlicht), überzeugte aber auch 1978 als sexuelle
Attraktion Lucienne in Philippe de Brocas erotischen Farce "Le cavaleur"
(Edouard, der Herzensbrecher). Als leidgeprüfte Ehefrau von dem "Querkopf"1)
Guillaume Daubray-Lacaze alias Louis de Funès konnte sie ihr komisches Talent
in "La zizanie" (1978) unter Beweis
stellen. Annie Girardot stellte Polizistinnen oder
Mütter ebenso lebensnah dar, wie einsame Frauen oder Ärztinnen. 1977 erhielt
sie den französischen Oscar "César"1) für die Titelrolle in
Jean-Louis Bertucellis "Docteur Françoise Gailland" (Dr. med. Françoise
Gailland).
Annie Girardot wirkte häufig in Filmen von de Broca, Claude Lelouch und André Cayatte
mit, mehrfach war Philippe Noiret ihr Partner, sei es in Komödien wie 1977 in de Brocas
Kassenhit "Tendre Poulet"2) (Ein verrückte
Huhn), in dessen Fortsetzung "On a volé la cuisse de Jupiter"2) (1980, Wer hat den Schenkel von Jupiter geklaut?)
oder in Jean-Pierre Blancs stiller tragikkomischer Liebesgeschichte "La vieille fille" (1972, Das späte
Mädchen). An die internationale Spitze spielte sie sich als 32-jährige
Klassenlehrerin, die sich in André Cayattes "Mourir d'aimer" (1970, Aus Liebe sterben)
in einen 17-jährigen Schüler verliebt und in den Tod getrieben
wird. Unter der Regie von Claude Lelouch drehte sie beispielsweise
das Drama "Weggehen
und Wiederkommen"1) (1985, Partir revenir) und
verkörperte in dieser Geschichte um eine jüdischen Familie im besetzten Frankreich zur Zeit des
Nationalsozialismus als Hélène Rivière eine ihrer letzten großen
Hauptrollen.
Ab Mitte der1980er Jahre wurde es stiller um die Schauspielerin, sie zeigte
sich nur
noch selten auf der Leinwand und ihre Popularität schien nachgelassen zu haben. 1995 jedoch hatte
sie ein grandioses Comeback als sie in Claude Lelouchs neuer Version von
"Les
misérables"1) eine Bäuerin spielte; 1996 erhielt sie für diese Rolle wiederum
einen "César" als "Beste Nebendarstellerin".
Im neuen Jahrtausend übernahm Annie Girardot hin und wieder kleinere,
dennoch prägnante Nebenrollen, so als Mutter der Protagonistin (Isabelle Huppert)
in Michael Hanekes Literaturadaption "Die
Klavierspielerin"1) (2001, La Pianiste) oder als die von
Jochen Epstein (Mario Adorf) totgeglaubte Hannah Liebermann in Urs Eggers
berührendem Drama "Epsteins
Nacht"1) (2002). Danach wirkte sie unter anderem in den
Produktionen "La prophétie des grenouilles" (2004, Stimme des Elefanten) und "Je préfère
qu’on reste amis
"1) (2005, Zwei ungleiche Freunde) mit, spielte in in Michael Hanekes Thriller "Caché"1) (2005)
die Mutter von Georges Laurent (Daniel Auteuil), der gemeinsam mit
Ehefrau Anne (Juliette Binoche) terrorisiert wird. Zu Annie Girardot letzten Auftritten vor
der Kamera zählen Daniel Duvals Geschichte von einem kleinen
Waisenjungen "Le Temps des porte-plumes" (2006, Pippos neue Familie) und
"Christian" (2006) von der französischen Regisseurin und
weiblichen Hauptdarstellerin Élisabeth Löchen.
Neben der Arbeit für das Kino war Annie Girardot auch für das Fernsehen tätig,
hatte darüber hinaus immer wieder große Erfolge auf der Theaterbühne.
1989 veröffentlichte die Schauspielerin ihre Memoiren "Vivre d'aimer".
Im Jahr 2006 ging durch die Medien, die Schauspielerin leide seit geraumer
Zeit an einer beginnenden Alzheimer-Erkrankung, zwei Jahre später vermeldete
die Presse, dass Annie Girardot in einem mit medizinischen Geräten ausgestatteten Haus in
Paris lebe, da die Krankheit weiter fortgeschritten sei und sie vollkommen in
das Dunkel des Vergessens abgetaucht sei; eine Dokumentation im Jahre 2008
beschrieb ihr Schicksal. Am 28. Februar 2011
starb die französische Film-Ikone Annie Girardot 79-jährig im Pariser "Hôpital Lariboisière" im Kreise ihrer Familie.
Die letzte Ruhe fand sie auf dem Pariser "Cimetière du Père Lachaise"
→ www.findagrave.com.
Seit 1962 war Annie Girardot mit ihrem italienischem Schauspielerkollegen Renato Salvatori3)
verheiratet gewesen; aus der Verbindung stammt die am 5. Juli 1962 in Rom geborene Tochter Giulia. Obwohl sich
das Paar später wieder trennte, ließ es sich
nie scheiden; Renato Salvatori starb am 27. März 1988.
Der Dichter Jean Cocteau bezeichnete Annie Girardot einmal als das "schönste dramatische Talent der
Nachkriegszeit", schreibt DIE ZEIT (www.zeit.de)
in einem Nachruf und notiert unter anderem weiter "Die als sensibel und impulsiv beschriebene
gelernte Krankenschwester spielte in rund 40 Jahren in künstlerisch ambitionierten,
aber auch in unterhaltsamen Filmen mit. Sie übernahm dabei die verschiedensten Berufe,
als Richterin, Rechtsanwältin, Taxichauffeurin oder Polizistin. Von glamourös bis
burschikos fand sie sich in allen Genre-Rollen zurecht."
"Die grandiose Durchschnittliche" titelte "Die Welt" (www.welt.de)
und der Autor Hanns-Georg Rodek vermerkt zum Tode von Annie Girardot weiter:
"Sie war immer eher die Durchschnittliche, mit rauher Stimme und struppiger Frisur,
"eine von uns". So konnte sie alles sein: eine zurückhaltende Liebhaberin (in Lelouchs
"Der Mann, der mir gefällt"), ein Dienstmädchen, das mit Michel Piccoli eine Liebschaft beginnt (in Ferreris
"Dillinger ist tot") oder eine Ärztin (in "Dr. med. Françoise Gailland"),
die ihr den ersten César einbrachte."
Für die F.A.Z. war sie "eine klassische Schauspielerin für die dunkleren Spielarten des Kinos":
Annie Girardot, auch wenn sie gelegentlich in Komödien mitspielte, war eine klassische Schauspielerin der
"série noire", des Melodrams, der dunkleren Spielarten des Kinos. (
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Die gewisse Traurigkeit,
die oft um ihre Züge spielte und einen Nachklang von Erfahrungen zu enthalten schien, über die man
eher im Flüsterton spricht, gab ihren Figuren auch dort Kontur, wo sie, wie so oft, nur in Nebenrollen glänzen konnte. (
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