|
Jacques Tati wurde am 9. Oktober 1907 als Jacques Tatischeff im
französischen Le Pecq (heute: Département Yvelines) geboren; sein
Vater Georges Emmanuel Tatischeff (1875 1957) war der Sohn von Graf Dimitri Tatischeff,
Militärattaché an der russischen Botschaft in Paris, und verdiente das Geld
als Bilderrahmer, seine Mutter war die Niederländerin Marcelle Claire van Hoof. Mit seiner älteren Schwester Nathalie
(geb. 1905) verbrachte Tati seine Kindheit in
dem westlich von Paris gelegenen Saint Germain-en-Laye,
wo er 1925 auch seine Militärzeit bei den 16. Dragonern
ableistete. Danach erlernte er zunächst den Beruf des Vaters, interessierte sich
jedoch mehr für Sport und war als Rugby-Spieler aktiv, später arbeitete
er dann als Pantomime am Kabarett sowie in den Music-Halls von Paris. In den
1930er Jahren trat er als Darsteller in Kurzfilmen auf, erstmals 1932
in "Oscar, champion de tennis", 1934 gab er sein Regiedebüt
(Co-Regie) mit dem Spielfilm "On demande une brute".
Schon sein erster gedrehter eigener Lang-Spielfilm "Jour de fête"1) (1948,
Tatis
Schützenfest2)), in dem er auch die Hauptrolle des Dorfbriefträgers
François, der obsessiv seinen simplen Job modernisieren will,
übernahm, wurde 1949 in
Venedig bei den Filmfestspielen für einen "Goldenen Löwen"
nominiert, ein Jahr später erhielt Tati den "Grand prix du cinéma français" als
"Bester Film".
Jacques Tati 1938 im "Kabarett
der Komiker"1)
Urheber: Willy
Pragher1); Lizenz: CC BY 3.0; Rechteinhaber: Landesarchiv
Baden-Württemberg
Quelle: Deutsche
Digitale Bibliothek bzw. Wikimedia
Commons
|
Bereits dieses Erstlingswerk
wies alle Merkmale von Tatis turbulenten, den Klamauk nicht scheuenden
Gesellschaftssatiren auf, die mit Nonchalance und Charme der temporeichen
modernen Welt das alte provinzielle Frankreich als poetische Provinz
entgegensetzten. Ursprünglich war "Tatis Schützenfest"
als Farbfilm geplant gewesen, kam dann aber schwarzweiß ins Kino.
Später hat man in Frankreich mit viel Liebe und Kunstverstand die
wiedergefundene Farb-Fassung restauriert und 20 Jahre nach Tatis Tod
erstmals ins Kino gebracht.
Mit "Les vacances de Monsieur Hulot"1) (Die Ferien des Monsieur
Hulot2)) folgte dann 1953 sein wohl bekanntester Film, in dem er mit dem
kleinbürgerlichen Protagonisten "Hulot", dem die moderne Welt die
Sprache verschlägt, eine Figur schuf, die zu den ganz großen
komödiantischen Figuren der Filmgeschichte zählt: Der unbeholfene Hulot, der
Träumer mit Regenmantel, Pfeife und viel zu kurzer Hose, ist ein freundlicher,
argloser Störenfried, der alles richtig machen möchte, aber ständig Opfer des Alltäglichen
wird und von einer Katastrophe in die andere schlittert.
Durch das scheinbares Ungeschick
entsteht subtile Komik, doch nicht allein Hulot ist komisch, das gesamte Ferienmilieu,
die Riten der Freizeit, die Organisationsform der Jagd nach Erholung, die Dinge selbst
tragen gleichsam an sich bizarre Züge, die der Film erst erschließt. Stärker noch als in
"Jour de fête" spricht Hulot nur undeutlich, es gibt keine geschliffenen Dialoge,
dafür aber eine sorgfältige Komposition der Geräusche. Die Figur des Monsieur Hulot
ließ Tati später in allen seinen Filmen
auftreten. Für sein Werk wurde Tati unter anderem 1953 in Cannes mit
dem "Großen Preis der Internationalen Kritik"
ausgezeichnet.
1958 erschien dann mit "Mein Onkel"1)
(Mon
oncle2))
der erste von Tati gedrehte Farbfilm, in dem er Kritik an der
vollautomatisierte Welt übte und die Diskrepanz zwischen Herz und Technik
aufzeigte; hierfür erhielt Tati neben verschiedenen anderen Preisen einen "Oscar" als
"Bester
ausländischer Film". 1965 begann er mit den Dreharbeiten zu "Playtime – Tatis herrliche Zeiten1))
(Playtime2)). Der Film zeigt Monsieur
Hulot, den bescheidenen Feriengast, der sich in der hochtechnisierten
Villengegend verirrt und sich zwischen gigantischen Großbauten,
unpersönlichen Büros und ungemütlich steifen Hotels und Restaurants nicht
zurecht findet.
Der Film kam wegen enormer finanzieller Schwierigkeiten erst 1967 in die
Kinos, wurde an der Kinokasse ein totaler Reinfall aber von der Kritik hoch
gelobt und 1968 von der Französischen Filmakademie mit dem "Grand
Prix" ausgezeichnet. Dem Publikum stand damals nicht der Sinn nach
handfester Kapitalismuskritik, nicht nach Tatis Spott über den
Fortschrittsoptimismus jener Jahre. "Playtime" kam nur als billigere
35mm-Version in die Kinos und dieses kleinere Format machte jenen optischen
Eindruck architektonischer Gigantomanie zunichte, für den Tati sein Vermögen
beim Bau der Kulissen verpulvert hatte.
1971 schließlich konnten die Zuschauer
in "Trafic"1), einer
sanft witzigen Satire auf den Straßenverkehr und
die menschliche Kommunikation, Hulots Kampf gegen die perspektivlose Technik
sehen und 1973 drehte er für das schwedische Fernsehen den Kinderfilm
"Parade", eine Art Dokumentarfilm über den Auftritt von französischen
Kabarettisten, der 1975 in Moskau ausgezeichnet wurde. Sein letzter Film in Vorbereitung,
der nie vollendet wurde, war "Confusion" und sollte sich mit
dem Medium Fernsehen auseinandersetzen.
1974 ging Tatis 1956 gegründete Produktionsfirma "Spectra Films"
Konkurs, seine ersten vier Filme wurden beschlagnahmt und er verlor
die Nutzungsrechte an seiner Arbeit.
Jacques Tati, dessen Bedeutung von der Filmindustrie nicht erkannt wurde,
konnte wegen andauernder Finanzprobleme innerhalb eines Vierteljahrhunderts
nur sechs Filme realisieren, doch
diese wenigen Filme sowie die von ihm geschaffene Figur des Monsieur Hulot
reichen völlig aus, um ihn zu einem der bedeutendsten Komödienregisseure
und Komiker der Filmgeschichte zu erklären. Er war ein Filmemacher par
excellence, der auf absoluter Kontrolle über sein Werk bestand und seine
Arbeit keinen Sachzwängen unterordnete.
Der Regisseur und Schauspieler,
der zu Recht neben so legendäre Stars wie Charles Chaplin3)
(1889 1977), Buster Keaton3)
(1895 1966) und Harold Lloyd3)
(1893 1971) gestellt werden darf, starb am 4. November 1982
mit 73 Jahren
in Paris an den Folgen einer Lungenembolie; seine letzte Ruhe fand er
auf dem "Cimetière ancien" in Saint-Germain-en-Laye → Foto der
Grabstelle bei knerger.de.
Seit 25. Mai 1944 war Jacques Tati mit Micheline Winter verheiratet; aus
der Verbindung stammen die 1978 mit einem "César"1) ausgezeichnete Regisseurin
Sophie-Catherine Tatischeff4)
(1946 2001) sowie der 1949 geborene Sohn Pierre-François Tatischeff,
der unter anderem als Filmproduzent tätig war und sich auch Pierre Tati nennt.
2002 ehrte man in Frankreich Tati als eine Art Nationalhelden:
Beim Filmfestival in Cannes gab es eine Retrospektive und die umjubelte Aufführung von
"Playtime" im originalen 70-Millimeter-Format und der Film und entpuppte sich als der Renner des Pariser Kino-Sommers.
Es war Tatis Neffe Jérôme
Deschamps1), der die Filme seines Onkels aus den Archiven ausgegraben und
"Playtime" neu ins Kino gebracht hatte. Das Filmmagazin
"Cahiers du Cinema" widmete Tati eine Sonderedition und die Ausstellung
"La vie en Tatirama" war bis Ende Oktober 2002 in Paris zu sehen;
2003 wandert sie weiter in die Designmetropole Rotterdam.
Kurz, Frankreich verbeugte sich vor einem Meister des Kinos,
der von sich sagte, er habe die monströse Hochhausvorstadt "La Défense"
bei Paris bereits filmisch karikiert, bevor sie auf dem Reissbrett der Planer entstand.
2010 veröffentlichte der französische Regisseur Sylvain Chomet mit
"L' illusionniste" einen Animationsfilm, der auf einem
unveröffentlichten Drehbuch Tatis aus dem Jahr 1956 beruht und sich des bekannten Komikers als Titelheld
annimmt. Chomet hatte das Skript von Tatis Tochter Sophie erhalten. Anlässlich des Kinostarts berichtete
die internationale Presse über eine uneheliche Tochter des Künstlers, Helga Marie-Jeanne Schiel, die ihn zum Drehbuch
inspiriert habe. Diese stamme aus einer Beziehung zu der Österreicherin Herta Schiel, mit der Tati während der deutschen Besatzungszeit
im Pariser Varietétheater zusammengearbeitet haben soll. Tati erkannte die Tochter nie an.5)
|